STADT+KREIS | TÜBINGEN
Seite 21 | Freitag 29. Oktober 2021
Beim Augeninfarkt drängt die Zeit
Medizin – Tübinger Neurologen testen ein Medikament, um die Zerstörung der Netzhaut zu verhindern
TÜBINGEN. Heute, am 29. Oktober, ist Weltschlaganfall tag. Dabei denkt jeder an den gefürchteten Aussetzer im Gehirn. Aber nicht nur das Gehirn kann einen Infarkt erleiden, auch das Auge kann von einem akuten Verschluss der Blutzufuhr betroffen sein. Wie der aufgelöst werden kann, erforscht ein Team vom Tübinger Hertie Institut für klinische Hirnforschung.
Der Augeninfarkt zeichnet sich durch eine plötzliche, schmerzlose Sehverschlechterung innerhalb von Sekunden aus. Unbehandelt führt er in rund 95 Prozent der Fälle zu einem schweren und dauerhaften Sehverlust im betroffenen Auge. Der Grund ist ein Gerinnsel in den Blutgefäßen, welche die Netzhaut versorgen. Sind die Gefäße verstopft, ist die Sauerstoffzufuhr behindert und das Gewebe stirbt ab. Je schneller das Blut wieder ungehindert fließt, umso besser die Prognose.
Ein Forschungsteam um Dr. Sven Poli vom Hertie-Institut und dem Uniklinikum sowie Professor Martin Spitzer von der Universitäts-Augenklinik in Hamburg-Eppendorf untersucht nun, inwieweit ein Medikament das Gerinnsel auflösen und dadurch die Zerstörung der Netzhaut aufhalten kann. Rund 400 Patientinnen und Patienten sollen deutschlandweit im Rahmen der Studie behandelt werden. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung unterstützt das Vorhaben mit vier Millionen Euro.
Seltene Krankheit
»Beim Augeninfarkt gilt: Zeit ist Netzhaut. Bereits innerhalb von vier Stunden, nachdem der Blutfluss unterbrochen ist, treten irreversible Schäden am Auge auf«, erklärt Studienleiter Sven Poli. Trotz einer Vielzahl von verbreiteten Standardbehandlungen gibt es bislang keine nachweislich wirksame Therapie, die die Krankheitsursache behandelt, anders als beim ischämischen Schlaganfall, bei dem das Medikament Alteplase mittlerweile routinemäßig und erfolgreich zur Auflösung des Blutgerinnsels eingesetzt wird.
»Es ist daher ein naheliegender Therapieansatz, das gleiche Arzneimittel beim Augeninfarkt einzusetzen«, erklärt Poli. Ob es wirkt und wie gut untersuchen die Tübinger Neurologen nun gemeinsam mit Hamburger Augenärzten in der klinischen Studie »Revision«. Bundesweit beteiligen sich aktuell 22 Kliniken an der Studie. Das Pharmaunternehmen Boehringer Ingelheim stellt das Medikament und das Placebo zur Verfügung.
Ein Augeninfarkt ist ein seltenes Krankheitsbild. Weniger als einer von 100 000 Einwohnern ist davon betroffen. Umso wichtiger ist, dass ihn auch Laien und niedergelassene Medizinerinnen und Mediziner als Notfall erkennen. »Tritt eine Sehverschlechterung innerhalb von Sekunden auf und existiert ein Schatten auf dem kompletten Auge, sollte die betroffene Person unmittelbar in die nächste Augenklinik oder zentrale Notaufnahme
gehen – notfalls mit dem Rettungsdienst, selbst dann wenn der Schatten nur von kurzer Dauer ist«, rät Poli.
Dort kann nach der Diagnose unmittelbar mit einer Behandlung begonnen werden. »Je früher ein Augeninfarkt erkannt und behandelt wird, umso besser die Chancen, dass das Augenlicht erhalten wird. Auch darauf wollen wir im Rahmen unserer Studie aufmerksam machen.« (h)