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  • PULS 1-2022 – Seite 64

    „Zeit ist Netzhaut“

    Neue Therapiestudie bei Augeninfarkt

    Mit weniger als einer Person unter 100.000 ist ein Augeninfarkt ein seltenes Krankheitsbild. Der Schaden, den er anrichten kann, ist aber umso größer. Eine nachweislich wirksame Therapie gibt es für den medizinischen Notfall bislang noch nicht. Ein Forschungsteam des Hertie-Instituts für klinische Hirnforschung und des Uniklinikums Tübingen will das nun ändern.

    Er kommt plötzlich und ohne Vorwarnung: der Augeninfarkt. Innerhalb von Sekunden verschlechtert sich die Sehkraft auf einem Auge rapide, schwarze Flecken und Schatten trüben die Sicht, ein Schleier zieht sich über das Bild. Schmerzen verspüren Betroffene dabei jedoch nicht. Wird der Infarkt nicht rechtzeitig behandelt, führt er in mehr als 95 Prozent aller Fälle zu einem schweren und vor allem dauerhaften Sehverlust im betroffenen Auge.

    „Nicht nur das Gehirn kann einen Infarkt erleiden, auch das Auge kann von einem akuten Verschluss der Blutzufuhr betroffen sein“, weiß Priv.-Doz. Dr. Sven Poli, Neurologe am Uniklinikum und dem Hertie-Institut für klinische Hirnforschung. Grund für einen solchen Infarkt sind Gerinnsel am Sehnerv oder an der Netzhaut. Sind die Gefäße dieser verstopft, wird die Sauerstoffzufuhr behindert und das Gewebe stirbt infolge der Unterversorgung ab. Ein solches Krankheitsbild zählt als medizinischer Notfall und muss umgehend behandelt werden: „Beim Augeninfarkt gilt ‚Zeit ist Netzhaut’“ erklärt Poli. „Bereits innerhalb von vier Stunden, nachdem der Blutfluss unterbrochen ist, treten irreversible Schäden am Auge auf.“ Je schneller das Blut wieder ungehindert fließt, desto höher ist die Chance, dass das Augenlicht erhalten werden kann. Innerhalb von maximal viereinhalb Stunden muss ein Augeninfarkt daher medikamentös behandelt werden.

    Medikamentenstudie REVISION

    Bislang gibt es zur Behandlung der Krankheitsursache keine erwiesenermaßen wirksame Therapie – anders als beim Hirninfarkt, der inzwischen routinemäßig und erfolgreich mit dem gerinnungslösenden Medikament Alteplase behandelt wird. Für das Forschungsteam um Poli ist das Medikament daher ein naheliegender Therapieansatz bei Augeninfarkten, den es gemeinsam mit der Universitäts-Augenklinik Hamburg-Eppendorf im Rahmen ihrer klinischen Studie REVISION untersuchen will. Die Studie ist doppelblind und placebo-kontrolliert. Bundesweit beteiligen sich mehr als 22 Kliniken am Proiekt. rund 400 Patientinnen und Patienten sollen im Rahmen der Studie behandelt werden.

    Text: Jana Ziegler
    Fotos: NDAB Creativity/Shutterstock.com

    WAS IST REVISION?

    REVISION steht für frühzeitige REperfusionstherapie mit intravenöser Alteplase zur Wiederherstellung der Sehleistung (VISION) bei akutem Zentralarterienverschluss der Netzhaut (REVISION). Das Projekt wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung mit über vier Millionen Euro gefördert. Boehringer Ingelheim stellt die Studienmedikation und Placebo her.

    Weitere Informationen unter:
    www.revision-trial.de

    PULS 64 WISSEN

  • Reutlinger General-Anzeiger | Freitag vom 29.10.2021
    STADT+KREIS | TÜBINGEN
    Seite 21 | Freitag 29. Oktober 2021

    Beim Augeninfarkt drängt die Zeit

    Medizin – Tübinger Neurologen testen ein Medikament, um die Zerstörung der Netzhaut zu verhindern

    TÜBINGEN. Heute, am 29. Oktober, ist Weltschlaganfall tag. Dabei denkt jeder an den gefürchteten Aussetzer im Gehirn. Aber nicht nur das Gehirn kann einen Infarkt erleiden, auch das Auge kann von einem akuten Verschluss der Blutzufuhr betroffen sein. Wie der aufgelöst werden kann, erforscht ein Team vom Tübinger Hertie Institut für klinische Hirnforschung.

    Der Augeninfarkt zeichnet sich durch eine plötzliche, schmerzlose Sehverschlechterung innerhalb von Sekunden aus. Unbehandelt führt er in rund 95 Prozent der Fälle zu einem schweren und dauerhaften Sehverlust im betroffenen Auge. Der Grund ist ein Gerinnsel in den Blutgefäßen, welche die Netzhaut versorgen. Sind die Gefäße verstopft, ist die Sauerstoffzufuhr behindert und das Gewebe stirbt ab. Je schneller das Blut wieder ungehindert fließt, umso besser die Prognose.

    Ein Forschungsteam um Dr. Sven Poli vom Hertie-Institut und dem Uniklinikum sowie Professor Martin Spitzer von der Universitäts-Augenklinik in Hamburg-Eppendorf untersucht nun, inwieweit ein Medikament das Gerinnsel auflösen und dadurch die Zerstörung der Netzhaut aufhalten kann. Rund 400 Patientinnen und Patienten sollen deutschlandweit im Rahmen der Studie behandelt werden. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung unterstützt das Vorhaben mit vier Millionen Euro.

    Seltene Krankheit

    »Beim Augeninfarkt gilt: Zeit ist Netzhaut. Bereits innerhalb von vier Stunden, nachdem der Blutfluss unterbrochen ist, treten irreversible Schäden am Auge auf«, erklärt Studienleiter Sven Poli. Trotz einer Vielzahl von verbreiteten Standardbehandlungen gibt es bislang keine nachweislich wirksame Therapie, die die Krankheitsursache behandelt, anders als beim ischämischen Schlaganfall, bei dem das Medikament Alteplase mittlerweile routinemäßig und erfolgreich zur Auflösung des Blutgerinnsels eingesetzt wird.

    »Es ist daher ein naheliegender Therapieansatz, das gleiche Arzneimittel beim Augeninfarkt einzusetzen«, erklärt Poli. Ob es wirkt und wie gut untersuchen die Tübinger Neurologen nun gemeinsam mit Hamburger Augenärzten in der klinischen Studie »Revision«. Bundesweit beteiligen sich aktuell 22 Kliniken an der Studie. Das Pharmaunternehmen Boehringer Ingelheim stellt das Medikament und das Placebo zur Verfügung.

    Ein Augeninfarkt ist ein seltenes Krankheitsbild. Weniger als einer von 100 000 Einwohnern ist davon betroffen. Umso wichtiger ist, dass ihn auch Laien und niedergelassene Medizinerinnen und Mediziner als Notfall erkennen. »Tritt eine Sehverschlechterung innerhalb von Sekunden auf und existiert ein Schatten auf dem kompletten Auge, sollte die betroffene Person unmittelbar in die nächste Augenklinik oder zentrale Notaufnahme

    gehen – notfalls mit dem Rettungsdienst, selbst dann wenn der Schatten nur von kurzer Dauer ist«, rät Poli.

    Dort kann nach der Diagnose unmittelbar mit einer Behandlung begonnen werden. »Je früher ein Augeninfarkt erkannt und behandelt wird, umso besser die Chancen, dass das Augenlicht erhalten wird. Auch darauf wollen wir im Rahmen unserer Studie aufmerksam machen.« (h)

    https://revision-trial. de